Fast wie im Himmel


Geschichten von der Linde in Himmelsberg


Ute Verena Schneidewindt



Kapitel III


Pflichten und Geschichten


Es war spät. Die Sonne stand schon ziemlich schräg am Himmel, als Anna Lena atemlos und in Eile auf die Linde zugelaufen kam.

"Alter Baum, bist du da?", rief sie.

Das Gesicht der alten Linde erschien im Geäst.

"Ja", sagte sie mürrisch.

"Alte Linde, ich muss dir was erzählen, ich habe …"

"Sag mal, bist du eigentlich immer unpünktlich?", unterbrach der Baum sie irritiert.

"Ich bin doch jetzt da! Ich habe …"

"Wir waren am Spätnachmittag verabredet", maulte der Baum.

Das kleine Mädchen stutzte.

"Das ist unzuverlässig", fuhr die Linde angesäuert fort.

"Mein Papa sagt immer, dass man sich bei mir darauf verlassen kann, dass ich unpünktlich bin", verteidigte sich Anna Lena lautstark.

Der Baum schaute sie verärgert an.

"Außerdem ist das doch gar nicht wichtig", fuhr sie jetzt fort. "Ich bin doch jetzt da."

Plötzlich war Anna Lena enttäuscht. Sie hatte sich doch so auf die erste Geschichte gefreut und jetzt das.

Die alte Linde spürte, dass das Mädchen, das sie schon beim ersten Mal so lieb gewonnen hatte, traurig war. Aber sie war schließlich versetzt worden! Und irgendwie fühlte sie sich auch ein bisschen verletzt, wenn sie ganz ehrlich mit sich selbst war. Lange schwieg der alte Baum.

Dann ging ein Ruck durch das Geäst.

"Ich hatte gedacht, du hättest mich vergessen", gestand die alte Linde leise.

Das Mädchen schaute überrascht auf.

"Aber ich habe mich doch den ganzen Tag darauf gefreut, dich nach dem wilden Mann zu fragen", entgegnete sie ebenso leise.

Der Baum und das Mädchen guckten sich jetzt an. Eine ganze Weile sagten beide nichts. Dann ergriff der alte Baum behutsam das Wort.

"Wie war das mit dem wilden Mann?", fragte er jetzt fast zärtlich.

Anna Lena schluckte. Vorsichtig sagte sie: "Ich habe ihn gesehen!"

"Einen wilden Mann, hier im Dorf?", fragte die Linde jetzt erstaunt.

"Ja, stell dir vor, er hing an der Häuserwand", antwortete Anna Lena.

Da musste der Baum plötzlich laut lachen. Vergessen war die Unpünktlichkeit.

"Du meinst, er hing einfach so an einer Wand?", fragte er noch erstaunter.

"Wer hat ihn denn dahingehängt?"

"Nein Baum. Du verstehst das nicht. Die Fachwerkler nennen diese Verstrebelungen so", sagte Anna Lena und kam sich dabei sehr schlau vor.

Der Baum guckte verdutzt: "Du meinst, die Fachwerker nennen die Verstrebungen so. Du redest vom Fachwerkbau?"

"Hab ich doch gesagt!", antwortete sie etwas besserwisserisch. Anna Lena machte sich mit einem Mal Sorgen, ob der alte Baum auch anfangen würde, in so schwierigen Worten zu reden wie ihr Papa.

"Gibt es dazu eine Geschichte?", fragte sie neugierig.

Der Baum überlegte. "Ja, gibt es schon. Willst du sie hören?"

"Aber ja!"

"Also, es gab einmal einen wilden Mann, der lebte in einer Baumhöhle tief im Wald", fing der Baum an.

"Hier im Wald?"

"Ja, wenn du so willst", erwiderte der Baum.

"Er ging jeden Tag angeln. Er hatte sich aus einem Weidenzweig und mit Wildpferdhaaren eine Rute gebastelt. Es war eine besondere Rute. Er hatte Wildpferdhaar genommen, das verzaubert war, denn er wollte, dass an seiner Rute ein bestimmter Fisch anbiss. Es lebte in Himmelsberg nämlich eine schöne Magd. Sie ging immer im Wald Holz sammeln und dabei hatte der wilde Mann sie gesehen. Er hatte sich so in sie verliebt, dass er ihr die ganze Welt zu Füßen legen wollte. Aber natürlich war er ein wilder Mann, den keine Frau anschaute. Mit der verzauberten Rute jedoch fing er den König des Gewässers. Und weißt du was?", fragte der Baum.

"Nee!", antwortete das Mädchen.

"Dieser König des Gewässers trug einen goldenen Ring um seine Flosse und sagte: ‚Schenk ihn deiner Liebsten. Wenn sie ihn trägt, dann wird sie dich beachten.' Also legte der wilde Mann an einem Morgen den Ring auf den Waldboden, gerade da, wo die Magd vorbeigehen würde, um Holz zu sammeln.

Als die Magd den Ring sah, jauchzte sie voller Entzücken: ‚Was für ein schönes Schmuckstück!' Und sie steckte ihn sich an. Da trat der wilde Mann aus dem Dickicht. Sie schaute ihn an, aber trotz des Versprechens des Fisches verliebte sie sich nicht in ihn, sondern lief schreiend weg. Der wilde Mann aber nahm den Ring, den sie abgenommen hatte, wieder an sich. Er war so traurig, dass er weinen musste. Und während eine Träne zu Boden fiel, erschien ihm plötzlich wieder der König des Gewässers. ‚Auch wenn sie dich nicht liebt, kannst du trotzdem bei ihr sein. Geh abends zu ihrem Haus, klopfe mit dem Ring dreimal an die Häuserwand und warte ab, was geschieht.' Der wilde Mann tat wie ihm geheißen. Leise schlich er zu der Scheune. Und während er da so stand und klopfte, wurden seine Glieder steif. Er schwebte zu den Verstrebungen hoch und verwandelte sich in den wilden Mann an der Häuserwand. Die Magd wunderte sich am nächsten Tag über die neuen Balken, aber sie schienen das Unheil aus dem Haus und dem Hof zu vertreiben. So freute sie sich über den wilden Mann und gewann ihn letzten Endes doch lieb."

Das Mädchen schaute vorsichtig an dem Baum hoch.

"Sag mal, alter Baum. Stimmt das wirklich?", wollte sie wissen.

"Klar stimmt das. So wahr ich hier stehe!", antwortete dieser forsch.

"Aber dann muss Himmelsberg doch ein Dorf von Wilden gewesen sein. Ich meine, ich hätte hier noch einige wilde Männer in den Häuserwänden entdeckt", sagte Anna Lena schnell.

"So kann man das hier mit den Himmelsbergern nun auch nicht wieder sehen", erwiderte der Baum schnell. "Die Dorfbewohner sind ein nettes Völkchen. Ich muss die Geschichte noch einmal überdenken."

"Was heißt hier überdenken? Ich denke, den wilden Mann gab es wirklich?", hakte das Mädchen nach.

"Nicht so ganz", druckste der Baum rum.

"Erzählst du mir hier etwa Geschichten?"

"Genau!", erwiderte der Baum erleichtert.

Nachdem die Linde einen kurzen Moment geschwiegen hatte, ergriff sie wieder das Wort.

"Na gut, wenn ich ehrlich bin, habe ich die Geschichte gerade erfunden", sagte sie kleinlaut.

Anna Lena schwieg, nicht wirklich erstaunt.

"Ich kenne keine Geschichte vom wilden Mann", sagte der Baum noch kleinlauter. "Und weil ich dich nicht noch einmal enttäuschen wollte, habe ich eben eine erfunden. Aber dass der wilde Mann Unheil abwenden soll, das stimmt!"

"Ich möchte aber nur die wahren Geschichten hören", sagte Anna Lena daraufhin bestimmt.

Der alte Baum nickte betreten.

"Ich kann dir ja erst einmal anstatt Geschichten die Geschichte des Dorfes vortragen."

"Du meinst, so eine Art Heimat- und Sachunterricht", sagte Anna Lena gelangweilt.

"Nicht so, lass mich doch jetzt erst einmal erzählen", und er fing an. Gebannt lauschte Anna Lena den Worten der Linde. Da wo Himmelsberg jetzt war, hatte es früher nur einen dichten Urwald gegeben, fast so eine Art Dschungel, nur ohne Tiger und Schlangen. Dann hatten die damaligen Menschen beschlossen, den Wald zu roden, eine Kirche und Häuser zu errichten und den Boden zu beackern. Damit wurde Himmelsberg gegründet. Das war so lange her, dass Anna Lena sich das gar nicht vorstellen konnte. Du musst denken, dass es ungefähr 26 Omas hintereinander gab. Solange gibt es Himmelsberg schon, hatte die alte Linde gesagt. Ob es Traktoren gab, mit denen man die Bäume ausgerissen hatte, wollte das Mädchen wissen, aber die alte Linde lachte nur und meinte, dass die Menschen mit Feuer und ihren eigenen Händen die Bäume gerodet hätten. Und als das Dorf etwa 150 Jahre schon stand, da passierte etwas Ungeheuerliches. Das ganze Dorf wurde nämlich einfach verschenkt. Damals ging so etwas noch. Das Dorf gehörte nämlich einem Grafen, der ganz lustig hieß: Graf Berthold von Ziegenhain. Auf jeden Fall hatte er Himmelsberg 1243 einem Kloster gegeben, weil er wollte, dass seine Eltern in den Himmel kommen, wenn sie sterben. Geschichte ist kompliziert, hatte die alte Linde gesagt und Anna Lena musste ihr Recht geben. Der Baum erzählte, wie das Dorf einmal dem einen und einmal dem anderen gehört hatte. Dass, als Amerika entdeckt wurde, mit einem Mal auch die Himmelsberger wussten, dass die Erde rund war und dass auch der Streit darum, wie man an den lieben Gott glaubt, vor Himmelsberg nicht halt machte. Es gab außerdem viele Kriege. Einer dauerte sogar 30 Jahre lang und brachte Tod und Elend.

Anna Lena kaute an ihren Nägeln.

"Baum, das verstehe ich nicht! Du hast mir jetzt davon erzählt, dass das Dorf dort steht, wo es einmal Wald gab."

"Genau, die Fachmänner höre ich immer sagen, das wäre die spätmittelalterliche Rodungsphase. Dann kam die Entdeckung von Amerika. Anschließend war die Reformation, danach der dreißigjährige Krieg, der ganz Europa überzog, später der siebenjährige Krieg zwischen Preußen und Österreich und viele andere Ereignisse."

"Aber ich weiß jetzt immer noch nicht, wie die Leute hier eigentlich gelebt haben."

"Das ist ganz einfach", antwortete die Linde. "Hier ging immer alles seinen gewohnten Gang. Im Sommer wurden die Felder bestellt und im Winter wurde von den Vorräten gelebt. Sonntags ging man im Festgewand zur Kirche und abends traf man sich unter meinem Geäst, um ein Bier oder einen Wein zu trinken. Die Himmelsberger sind fleißig, beständig und gottesfürchtig."

Anna Lena dachte über die gesagten Worte nach.

"Baum, was ist beständig?", wollte sie wissen.

Die Linde schaute sie an.

"Wie soll ich dir das erklären", seufzte sie.

"Also, manche sagen, es bleibt immer alles beim Alten. Weißt du, etwa so, wie wenn dein Papa jeden Morgen die Zeitung liest."

Anna Lena guckte hoch.

"Mama schimpft dann immer", sagte sie leise.

"Na ja, das ist noch eine andere Sache", entgegnete der alte Baum behutsam.

"Aber weißt du, auch wenn es deine Mutter ärgert, dass dein Papa Zeitung liest, anstatt mal mit ihr zu reden, ist es trotzdem auch beständig. Es bleibt so, wie es ist. Manchmal gut und manchmal schlecht, es bleibt bestehen."

Anna Lena kaute jetzt wieder an ihren Nägeln. Sie versuchte zu erfassen, was dieses Wort bedeutete. Es war so schwierig zu verstehen.

"Ich habe das noch nicht ganz begriffen", sagte sie schließlich.

"Die Himmelsberger haben auch viele Veränderungen erlebt", antwortete der Baum. "Ich habe dir nicht von allen Kriegen erzählt, die in der Welt stattgefunden haben und die auch Himmelsberg nicht unberührt gelassen haben. Das Dorf hat viele Wechsel gesehen. Es gab hier mal viel mehr Kinder und noch eine eigene Dorfschule. Auch das Dorfbild hat sich stark verändert. Die Straßen sind mittlerweile geteert, es gibt hier Lampen und das Wasser kommt nicht mehr aus den Brunnen. Früher waren hier alle Landwirte, die von Ackerbau und Viehzucht lebten. Jetzt gibt es nur noch ganz wenige, die meisten fahren in die Stadt zum Arbeiten und sind keine Bauern mehr. Und trotzdem" – der Baum machte eine bedeutungsvolle Pause - "ist das Dorf noch hier mit allen seinen Bewohnern, die Feste zusammen feiern, gemeinsam in die Kirche gehen und hier ihre Kinder großziehen."

Anna Lena überlegte wieder.

"Man lebt nicht an jedem Ort gleich", schloss der Baum seine Rede. "Ein Dorf ist keine Stadt und Himmelsberg ist nicht wie eine Großstadt. Du wirst das Dorf kennen lernen. Es ist sehr liebenswert, selbst wenn es hier auch einmal Streit gibt."

Anna Lena überlegte immer noch. Bis jetzt hatte sie vor allen Dingen gedacht, dass in einem Dorf jeder ein Schwein und ein Huhn hatte, dass man von den Heuballen in der Scheune runterspringen und Schafe auf der Weide jagen konnte. So hatte sie sich ihr verlängertes Wochenende vorgestellt! Wie man hier lebt, wenn man hier groß wird, das hatte sie sich eigentlich noch gar nicht überlegt. Langsam stand sie von der Bank auf.

"Tschüss", sagte sie knapp zu der Linde und drehte sich um.

"Bis morgen?", rief die alte Linde dem Kind hinterher, doch da hatte es schon in Gedanken versunken seinen Weg genommen. Dann drehte es sich doch noch einmal um, winkte dem Baum zu, um schließlich nach Hause zu laufen.